Der Etana-Mythos
Eine Übergangsgeschichte aus dem Zweistromland

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4. Archäologische Zeugnisse

Aber erst ab etwa der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts vollzog die Archäologie eine kleine Revolution bei der Interpretation der vorliegenden Objekte. Die LeserInnen dieser Homepage kennen vielleicht schon das anatolische Çatal-Höyük, für das der Entdecker James Mellaart in den Sechziger Jahren ein Matriarchat (Mütterherrschaft) zu sehen glaubte, aber nicht erkannte, dass er es mit einer egalitären, matrifokalen Gemeinschaft zu tun hat, die bereits Ackerbau betrieb, und in der jedoch die Männer noch ursprüngliche Jäger waren. Weil der Begriff Matriarchat missverständlich ist 1, verwende ich den Begriff "Matrifokalität". Unter Matrifokalität ist, das ist entscheidend, nicht "Mütterherrschaft" zu verstehen, sondern eine friedfertige, egalitäre Lebensweise, die matrilinear und matrilokal funktioniert (nicht: organisiert ist). Die Frau ist natürlicher Mittelpunkt der mütterlichen Linie der Blutsfamilie (Matrilinearität), deren weibliche Mitglieder im Umkreis ihrer Mutter bleiben, auch wenn sie selbst Mutter werden (Matrilokalität). Besitz wird, sofern schon vorhanden, an die Töchter vererbt. Soziale Vaterschaft ist - wie lange Zeit auch die biologische Vaterschaft - noch unbekannt, der Mutter-Bruder (Avunkulus) übernimmt diese Rolle für die männlichen Kinder. Ein wichtigstes Kennzeichen ist die Verehrung der Großen Göttin, die durch zahllose Funde von Statuetten belegt ist. Matristische Züge sind in allen polytheistischen Religionen erhalten, aber auch das Christentum kennt z.B. noch mit Maria die alte Grosse Göttin des vorderen Orients. 

Wir haben es hier nicht mit einer fixen Idee einiger weniger SpinnerInnen zu tun, vielmehr ist die matrifokale Lebensweise der Urgesellschaft in allen Ländern nachweisbar und noch heute mancherorts anzutreffen: Die Ethnologie bestätigt durch die Entdeckung noch heute existierender matrifokaler Gemeinschaften oder Sitten, wie z.B. die Besuchsehe oder die Matrilokalität (Ehemann zieht in das Haus der Frau) diese Erkenntnisse. 

Der Übergang von der Matrifokalität zum Patriarchat kann natürlich nicht nur dann erforscht werden, wenn anerkannt wird, dass es diesen Übergang gibt, und nicht das Patriarchat die natürliche Lebensweise des Menschen ist. Redliche Wissenschaft wird immer zu diesem Ergebnis kommen. Wir finden unzählige greifbare Spuren und es wurden Mythen aus dieser Zeit überliefert, die kulturhistorisch untersucht keinen anderen logischen Schluss zulassen. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel ist das durch Keilschrifttafeln und Reliefs aus dem Zweistromland unzweifelhaft belegte Ritual der Heiligen Hochzeit. Männliche Herrscher mussten zu Beginn ihrer Amtszeit mit der obersten Priesterin, der Stellvertreterin der Göttin Ishhtar auf Erden, den Geschlechtsakt vollziehen, um göttlichen Status zu erreichen. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Große Göttin bereits ihre Natürlichkeit eingebüßt und war eine Himmelsherrscherin nach patriarchalem Muster, ein Faktum, das vielen MatriarchatsforscherInnen als Beweis für ein Matriarchat gilt. Aber die Heilige Hochzeit war eine Einrichtung des Patriarchats, die dem König Macht verlieh. Sie war jedoch ein Anachronismus aus matrifokaler Zeit, der zusammen mit anderem belegt, wie schleichend, manchmal sogar rekursierend, ja widerstrebend, der Prozess der Patriarchalisierung vonstatten ging. Schließlich verkamen die Priesterinnen zu Tempelhuren, der Geschlechtsakt mit ihnen wurde ritualisierte Vergewaltigung: Der Ausdruck des Machtanspruches des Mannes über weibliche Sexualität und Selbstbestimmung.

Der keilschriftlich niedergelegte Etana-Mythos fällt in diese Zeit. Damit ist er ein wichtiges Zeugnis, das sich genauer zu untersuchen lohnt. Einen erneuten Anschub dafür erhielt die Forschung durch die archäologische Ausgrabung in der turkmenischen Wüste Karakum. Dort grub ein italienisch-russisch-turkmenisches Team 2 10 Jahre lang in den etwa 4000 Jahre alten Überresten der Städte von Gonur Tepe mit deren Nekropole und Adji Kui. In der Nekropole wurde zahllose Frauengräber mit reicher Ausstattung gefunden. Vor allem Siegel mit abstrakten aber auch figürlichen Verzierungen wurden mit in die Gräber gelegt. Sie waren Zeichen des Eigentums und der besonderen Stellung, die die Frauen aus dem klugen Umgang mit den landwirtschaftlichen Ressourcen zogen. Wie nicht mehr anders zu erwarten, fanden sich zudem viele Statuetten mit der Darstellung einer Göttin. Manche heben sich ab durch ihre besondere Machart: An einem bekleideten Körper aus dunklem Ton wurden aus hellem Material ein Kopf mit Hals und Unterarme mit Händen angesetzt 3. Die Gestalt ähnelt jedoch den Fat Ladies 4, die in anderen Regionen z.B. auch auf Gozo oder in Çatal Höyük gefunden wurden. Andere haben die für das Zweistromland aber auch für Südosteuropa typische Sanduhrenform mit vogelähnlichem Kopf und Schlangenaugen 5, sind unbekleidet und haben ausgeprägte Brüste. In Adji Kui fand der italienische Archäologe Gabriele Rossi-Osmida nun auch Figurinen, die ebenfalls diese Sanduhrenform mit Vogelkopf haben, aber unzweifelhaft männlich 6 mit Phallus dargestellt sind. Er sieht darin den Beleg für einen Wandel hin zum Patriarchat, in dem nun männliche Götter verehrt werden. Es fanden sich zudem zahlreiche Amulette 7 mit Darstellungen, die Rossi-Osmida mithilfe der Altorientalistin Sylvia Winkelmann (Halle) als Ausschnitte aus dem Etana-Mythos identifizieren konnte: Ein Mann auf einem Adler fliegend, zwei Vögel um ein Gefäß stehend, Schlangen um einen Adler usw..
Rossi-Osmida sieht den Etana-Mythos als Geschichte des Übergangs. Etana, zum ersten König von Kisch ernannt, versucht, so Rossi-Osmida, dem "Matriarchat" (wie er es nennt) das Geheimnis des Lebens zu entreißen. Etana braucht das Gebärkraut, denn seine Frau kann keine Kinder bekommen. Die männliche Erbfolge (patrilineare Dynastie) ist noch nicht gesichert. Das Gebärkraut ist das Mittel zur Erschaffung einer neuen Kultur. Der politische Führer ist fortan ein König.

[1] siehe dazu die Begriffsklärung auf dieser Homepage.

[2] siehe Quelle 2.

[3] Die Abbildung oben zeigt den oberen Teil einer Figurine dieses Typs.

[4] Siehe hierzu im Text über Çatal-Höyük.

[5] Siehe Abbildung Kapitel 8

[6] Siehe Abbildung Inhalt

[7] Siehe Abbildungen Kap. 1, 6, 7



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