Tiefenpsychologische Deutung
nach
Eugen Drewermann
Drewermann nennt das Märchen von
Rapunzel einen Familienroman (nach Freud). Es sei die tragische Geschichte einer
Frau, die, weil sie nicht fähig sei, (einen) ihren Mann zu lieben, sich
ganz und gar auf ihre Tochter fixiere. Die negative Mutter-Kind-Beziehung, in
der die Mutter das Schicksal des Kindes unbewusst programmiere, führe zu tiefen
Lebenskonflikten.
Die Mutter Rapunzels und Frau
Gothel seien ein und dieselbe Person, die ihr ganzes Dasein von ihrer Tochter
abhängig mache. Der Mann sei seiner Frau gegenüber völlig machtlos. Er habe keinen
Platz
im Leben der beiden Frauen. Die Tochter, Drewermanns Ansicht nach gefangen im 'Turm der Verbote' ihrer
Mutter, werde aus den Fängen ihrer Mutter nur befreit werden können, wenn sie sich
emanzipiere. Der Prinz - er sei ein liebender, einfühlsamer Mann - der
beharrlich an seine Geliebte glaube, schaffe es zunächst, die Verbote der
Mutter zu unterwandern: Rapunzel wird schwanger. Doch auch nach der Trennung
von
der Mutter wirke die negative Erziehung weiter und führe schließlich zur
Trennung der Liebenden. Lange Jahre des völlig selbstständigen Lebens mit
ihren Kindern versetzten Rapunzel in die Lage, die Liebe zu ihrem Mann zu/anzu-
erkennen. Sie fänden wieder zueinander, weil auch der Prinz nie aufgehört habe
sie zu lieben.
Er zieht aus der Geschichte dieses Fazit:
"Immer wieder, vor allem im Raum der katholischen Kirche, hört man die Meinung vertreten, das Eheversprechen zweier Brautleute etwas für alle Zeiten unwiderruflich Gültiges; ohne weiteres setzt man dabei voraus, dass ein solches Versprechen der Liebe und der Treue 'frei und ungezwungen' zustande komme, und man vergisst dabei anscheinend vollkommen, dass es ganze Teile der eigenen Psyche gibt, die dem Bewusstsein weitgehend entzogen sind. Gerade die Wege der Liebe sind in jungen Jahren niemals frei von unbewussten Übertragungen, die, je nachdem, eine ebenso starke Bindungsenergie wie Zerstörungskraft zwischen zwei Menschen entfalten können. Die Bibel jedenfalls hat vollkommen recht, wenn sie an entscheidender Stelle meint, die Liebe bestehe wesentlich darin, 'Vater und Mutter' zu 'verlassen' und der Person des anderen 'anzuhangen' (Gen 2,24) - ein Wechsel also von Abhängigkeit zu Anhänglichkeit, von Gebundenheit zu Verbundenheit, von Bewahrung zu Bewährung, der die vollständige Reifung eines Menschen zu sich selbst voraussetzt. Ehe ein solcher Wandel der gesamten Lebenseinstellung zugunsten einer reifen Entscheidungsfähigkeit und Freiheit nicht vollzogen ist, bleibt die Liebe, so sehr sie auch von zwei Menschen einander gelobt werden mag, vorerst nur mehr ein Versuch; sie bedeutet ein Versprechen, eine Verheißung, ist aber nicht schon selbst gelebte Wirklichkeit." (Eugen Drewermann 1992, S. 196)Was die Patriarchatsforschung dazu sagt
Unter patriarchalen Bedingungen wird die Monogamie kirchlich eingefordert
und
abgesegnet. Der Sinn ist die Sicherstellung
der
Patrilinearität
des
Mannes
und
seine
Kontrolle
über seine leiblichen Kinder.
Die
Frau
wechselt
in
die
Familie
des
Mannes
und
muss
dort
mit
ihm
zusammenbleiben, auch wenn die Liebe erloschen ist. Die Verliebtheit erlischt
aufgrund der evolutionären Regel der >
female
choice ohnehin schon nach 3 Monaten. So gefangen muss sie
auch
mit
seinen
Verwandten
- ihr
fremden
Menschen - auskommen.
Eine patriarchalisierte Frau muss also ihre Eltern verlassen, ganz
ohne Gänsefüßchen, das nennt man Patrilokalität. Auch wechselt sie nicht von
Abhängigkeit zu Anhänglichkeit, sondern von einer Abhängigkeit in die andere.
"Liebe
lernen"
bedeutet hier nicht
mehr
und
nicht
weniger
als
die Anpassung
an einen unnatürlichen Zustand. Drewermann bezeichnet genau das als 'Reifung'.
Reifung ist damit nichts weiter als Resignation und ein sich Fügen in Unabänderliches.
Unter der natürlichen Matrifokalität leben die Menschen dagegen in Sippen zusammen
mit
allen Verwandten der mütterlichen Linie. Die Töchter bleiben bei der Mutter,
auf deren
Hilfe sie
vertrauen können, wenn sie selber Mütter werden. Unter diesen Bedingungen dauert
die Beziehung zu einem Mann meist nur solange wie die Verliebheit Bestand hat,
und kein Mann wird seine Kinder identifizieren können. Das
schließt
nicht
aus, dass das Paar nach der Verliebtheit eine tiefe Freundschaft zueinander entwickelt,
die wir heute als Liebe bezeichnen.
Diese Liebe muss nicht gelernt werden, weil die Frau und Mutter keinem Mann "anhänglich
sein muss".
Auch aus
der Freundschaft
leitet
sich
kein
Anspruch
des Mannes auf seine Kinder ab.
In der Natur ist der Mensch
>
bestens
angepasst an das Leben in der Sippe und aufgrund der female choice auch
an die
Umweltbedingungen.
Einziger
Zwang
ist
das
sich
Fügen
in
die
Unabänderlichkeit des Todes, der mit der urmütterlichen Spiritualität vertrauensvoll
angenommen
wird.
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