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Bericht über den Besuch einer
sog. Teppichfabrik im Anatolien des 3. Jahrtausends (2002)



Der Besuch einer 'Teppichfabrik' gehört zum Zwangsprogramm des größten türkischen Reiseunternehmens Öger-Tours. Schlimm genug, dass wir für eine Verkaufsveranstaltung einen Nachmittag unserer kostbaren Zeit opfern müssen! Wir haben ja für diesen Nachmittag auch bezahlt! Oder bezahlen müssen! Wird uns Ahnungslosen zunächst nur eine Besichtigung versprochen, ist es dann doch nichts als eine 'Butterfahrt' (die bei uns allerdings niemand zwangsweise absolvieren muss). Dennoch lässt sich auch dieser Frechheit etwas abgewinnen, denn wir bekommen Einblicke in die ach so fortschrittliche türkische Wirtschaft und ein Beispiel der wahrhaftigen Emanzipation der türkischen Frau.

Wir werden an einen Ort, angeblich eine Teppichfabrik, gekarrt, der eigens dafür erbaut ist, den Touristen einerseits Teppiche aufzuschwatzen und andererseits die Arbeitsbedingungen der Knüpferinnen zu rechtfertigen. Offensichtlich hat sich in der Türkei herumgesprochen, dass in Europa Orientteppiche immer öfter boykottiert werden, weil bekannt ist, wer wirklich an den Teppichen verdient. Dass kein Grund dazu besteht, den Boykott aufzuheben, beweist diese Farce: 

Ein sehr eloquenter, junger Mann , der sehr gut deutsch spricht,  führt uns in einen Raum, der mit Knüpfstühlen voll steht. Er erlaubt uns ausdrücklich zu fotografieren. Malerisch gekleidete ältere Frauen sitzen bei der Arbeit. Sie arbeiten schnell und schauen dabei gar nicht auf die Mustervorlagen, die oben an den Kettfäden befestigt sind. Die Frauen beherrschen das Muster intuitiv und würden viel zu viel Zeit verlieren, wenn sie dauernd auf das Blatt schauen würden. Der Mann erklärt uns, wie wunderbar es ist, dass die Frauen hier arbeiten dürfen: Sie verdienen Geld und haben darum zuhause Mitspracherecht! Sie arbeiten angeblich mit festen Pausen, weil die Arbeit die Augen anstrengt. Die weiteren Ausführungen beweisen, dass es sich um Akkordarbeit handelt und nicht um lockere "Handarbeiten". Er erklärt den Unterschied zwischen orientalischem und türkischem Knoten, der viel fester sein soll, da er doppelt geknüpft wird. Der Mann verspricht uns, dass wir anschließend Gelegenheit hätten, einmal selbst einen Knoten auszuprobieren. 

Weiter hinten im Raum an der Wand sitzen sechs junge Frauen, alle in der selben Arbeitskleidung, aber mit Kopftuch bekleidet. Sie dürfen Seidenteppiche knüpfen. Diese Arbeit ist noch schwerer, weil viel mehr Knoten auf den Quadratzentimeter passen und zudem nur langsam der Erfolg der Arbeit sichtbar wird. Sie knüpfen in rasender Geschwindigkeit und großer Geschicklichkeit die feinen Fäden in die begonnenen Teppiche. Ein kleines Mädchen von vielleicht 6 Jahren sitzt neben einer Frau in der Ecke und blickt sehr traurig. Es trägt goldene Glitzer-Barbie-Pantoffeln und hat ein Plastikkrönchen und ein Glitzertäschchen in der Hand. Der Mann sagt, es sei die Schwester der Knüpferin. Erst als ich ein Foto mache und ihr ein Bonbon schenke, fängt sie an zu lächeln. Der Mann zeigt noch auf eine der Frauen , von der er erzählt, sie hätte gerade geheiratet und würde bestimmt nicht arm sein. Sie trüge ja schließlich die goldenen Reifen am Handgelenk. Dass dies Brauch ist, dass sie die Ringe nicht selbst gekauft hat, schon gar nicht von Selbstverdientem, das verschweigt er. Die Gruppe wird schnell in den Nebenraum geschoben, wo gezeigt werden soll, wie Seide hergestellt wird. Ich wundere mich, warum uns keine Zeit gelassen wird zum Knoten-Ausprobieren. Ich bleibe deshalb einfach zurück zusammen mit einer Mitreisenden und wir fangen an, mit den jungen Frauen zu reden. Sie verstehen kein Deutsch, nur ein paar Brocken Englisch und wir verständigen uns mit Händen und Füßen. So viel erfahren wir dann aber doch: Das kleine Mädchen ist wohl doch nicht die Schwester, sondern die Tochter der dritten Frau von rechts! Die Mutter ist offenbar nicht nur arm, sie hat auch niemanden, der auf das Kind zuhause passen würde. Die Kleine muss jeden Tag mit in die Schaufabrik sich langweilen. Klar: Damit sie still ist und nicht arm aussieht, gibt es wohl die Glitzerschühchen. 
Die Frauen freuen sich sehr, dass wir mit ihnen reden, und sie fragen uns nach unserem Alter und ob wir verheiratet sind. 

Wir gehen dann weiter und bekommen gerade noch mit, wie die Seidenkokons gekocht werden. Nur zwei Meter davon steht schon die Spinnmaschine, die sehr antik wirkt: Ein Holzgestell mit einem großen Rad, auf das Dutzende von Seidenfäden gefädelt sind. Der Raum ist an die 10 m lang und an seinem anderen Ende sind Haken an der Wand. Der Spinner demonstriert den Kordelvorgang. Erst rennt er mit der Seidendocke ein paar mal zwischen Maschine und Haken hin und her, dass der Raum bald  wie ein Wäschetrockenraum mit langen Leinen aussieht. Dann beginnt er das Rad zu drehen und blitzschnell verwandeln sich die Fäden in festes Garn. Wir werden aufgefordert dem Mann zu applaudieren, mache ich natürlich nicht, denn die Frauen haben ja auch keinen Applaus gekriegt. 

Dann geht es zum eigentlichen Zweck der "Besichtigung". Im oberen Geschoss gibt es mehrere Räume, wo mehrere Touristengruppen gleichzeitig bearbeitet werden können. In jedem Raum hängen die Wände voller Teppiche und an den Wänden entlang stehen Bänke, auf denen wir Platz nehmen müssen. Der Mann fragt, was wir trinken wollen und bietet zahlreiche alkoholische Getränke zur Auswahl an, auch Kaffee (natürlich mit Schuss) und Tee. Er sagt im Scherz, dass derjenige, der nichts trinkt, hier nicht wieder rauskäme. Mir ist der Appetit so vergangen, dass ich als Einzige ablehne. Er ist verduzt, dass ich das wage und meint, ich müsse nun hier bleiben. Ich sage ihm nur, dass er dann sein blaues Wunder erleben werde. Die Gruppe lacht, denn alle kennen mich und wissen, wie ich das meine. Der Mann grinst verunsichert und lässt die Veranstaltung beginnen. Etwa sechs junge Männer werden aufgefordert, die Teppiche, die am Rande stehen, auszurollen. Ich mache munter weiter, diesmal als Einzige, zu fotografieren.

Es wird uns der fühlbare Unterschied zwischen Woll- und Seidenteppichen erklärt, wir sehen zahllose Muster und Farbstellungen. Zum Schluss finden wir eigentlich wenig typisch Türkisches, sondern Muster kopiert aus dem ganzen Orient und sogar China. Auch ist nicht ein einziger Kelim dabei. O.k. Kelims sind Webteppiche, aber doch sehr typisch. Dann werden die jungen Männer angeherrscht, sie sollten die Teppiche "zum Fliegen" bringen und tatsächlich, in einem Feuerwerk rollen sie noch mehr Teppiche, einen über den anderen aus, so dass zum Schluss ein 60 cm hoher Berg aus Teppichen vor uns liegt. Wir werden wieder aufgefordert zu applaudieren. Als Krönung wird uns ein Weltrekord präsentiert. 

Eine Knüpferin hat in jahrelanger Arbeit für den Laden den angeblich feinsten Teppich der Welt geknüpft, der jetzt im Guinessbuch der Rekorde stünde. Name des ziemlich kitschigen Werkes: "Trauriger Herbst". Ihr Lohn war ein Grundstück. Wie großzügig! Ob es ein gutes Grundstück ist, lässt sich nicht beurteilen. Ist auch egal, denn wenn sie heiratet, gehört das Grundstück ihrem Mann. Danach sollen wir kaufen, es werden schnell die Formalitäten erklärt und die Touristen müssen die Reklame stützen, indem sie ihre guten Erfahrungen mit solch einem Kauf erzählen "dürfen". 

Jetzt betritt der Boss den Raum: Ein über fünfzigjähriger, sehr dicker Mann mit Maßanzug und Maßschuhen und großer Brille, dicken goldenen Schmuck tragend und nichtmerkend, wie lächerlich das aussieht. Er stand schon eine Weile in der halbgeöffneten Tür und hat alles überwacht. Erst setzt er sich für ein paar Minuten ins Abseits. Sein offenbar beunruhigter, engster Mitarbeiter bzw. Berater macht ihn flüsternd darauf aufmerksam, dass ich Fotos mache. Es hat jedoch keine weiteren Konsequenzen. Inzwischen behauptet der Märchenerzähler, dass 60% des Preises in den Arbeitslohn gehen. Wessen Arbeit, das verschweigt er! Mir macht es jetzt einige Mühe den Boss zu fotografieren, weil mir plötzlich immer jemand ins Bild läuft. Schließlich stellt sich der Boss mit seinen nächsten Untergebenen mitten im Raum auf. Jedoch will eigentlich niemand so recht etwas kaufen oder mit ihm reden und offensichtlich ist er mit dem Ergebnis nicht zufrieden. Die Veranstaltung geht endlich dem Ende entgegen und wir können wieder an die frische Luft.

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