Die Ursprünge in der antiken Mythologie:

Das Rapunzel-Motiv ist in ganz Europa verbreitet und geht auf antike Mythen zurück, die in die Volksüberlieferung einflossen. Verschiedene Elemente der Geschichte sind dem altgriechischen Mythos von Demeter und Kore entliehen: "Der klassische Mythos von Kore-Persephone und Demeter wurde in ein Märchen über die heilige Demetra umgewandelt. Die Tochter der (Heiligen) Kore wurde von einem 'bösen türkischen Zauberer' (Hades) geraubt und in einen Turm gesperrt. Ein junger Held rettete sie, kam aber dabei auf grauenvolle Weise um. Der Bösewicht zerhackte ihn und ließ die Leichenteile an der Mauer des Turms 'zwischen Himmel und Erde' herunterhängen. Daraufhin erschien die heilige Demetra, geleitet von einem Storch (in der Antike ihr Totemvogel, der die Geburt symbolisiert), setzte die Leichenteile des Retters wieder zusammen und gab ihm sein Leben zurück." (Walker 1995, S. 162 f).

Der altgriechische Mythos von Danaë, einer der Geliebten des Zeus, ist mit dem Märchen Rapunzel aufs Engste verwandt: Danaë wird von ihrem Vater in einen Turm gesperrt, weil ihm nach einem Orakelspruch prophezeit wurde, dass er keine Söhne haben wird und ein Enkel ihn einst tötet. Zeus gelangt jedoch als Goldregen durch das undichte Dach zu Danaë, die dann den Perseus gebiert. Siehe dazu speziell meinen Blog.

Um die Zeitwende entstand die Legende von Hero und Leander. Hero war als Priesterin der Aphrodite im Tempel von Sestos an der Meerenge Hellespont eingesperrt. Leander, ihr Geliebter, durchschwamm jeden Abend das Wasser, um zu ihr zu gelangen. Seezeichen war eine Lampe, die Hero ins Fenster stellte. Als die Lampe vom Sturm ausgelöscht wurde, fand Leander nicht ans Ufer und ertrank. Vor Gram stürzte sich Hero ins Meer. Der sog. Leanderturm in Istanbul erinnert daran.

Auf heute türkischem Boden haben sich Sagen von eingesperrten Töchtern erhalten, die auf die griechischen Mythen zurückgehen, so in Kizkalesi (Mädchenburg) an der Kilikischen Mittelmeerküste: Eine Wahrsagerin hat dem Burgherrn prophezeit, dass seine Tochter von einer giftigen Schlange gebissen würde. Um sie zu schützen, sperrt er sie in eine zweite Burg, die gegenüber im Wasser steht. Die Schlange aber versteckt sich in einem Obstkorb, der auf die Burg gebracht wird, und so nimmt das Schicksal doch noch seinen Lauf.
(Es handelt sich dabei um zwei reale Kreuzfahrerburgen, deren Entstehung mit der Sage erklärt wird.)

Nach der römischen Gründungslegende machte der Bruder des von ihm getöteten Königs von Alba Longa dessen Tochter Rhea Silvia zur Vestalin, weil er nicht wollte, dass sie Nachkommen hätte, die Rache an ihm nehmen könnten. Vom Kriegsgott Mars verführt gebiert sie dann aber die Zwillinge Romulus und Remus.

Anklänge an das Motiv der eingesperrten Tochter finden sich auch bei dem griechischen Geschichtsschreiber Herodot. Er berichtet von Mandane, der Tochter des medischen Königs Astyages, die er erst nach Persien verheiratete und dann von dort zurückholte, weil er zweimal davon träumte, dass sie dem Medischen Reich Unglück bringen würde.

Einige Elemente aus Rapunzel sind sogar mit dem altbabylonischen Etana-Mythos verwandt: Das Kraut mit der Macht über die Fruchtbarkeit und der Turm. Hoch oben wohnt die Göttin selbst.

Auch Maria Magdalena, die Apostelin der Apostel, wird in der Literatur manchmal als Urbild Rapunzels bezeichnet, jedoch ist ihre Überlieferung jünger als beispielsweise der Demeter-Mythos, der dem Inhalt nach aus der frühen Bronzezeit stammen muss. Der Tempel in Jerusalem war einst den dreifaltigen Göttinnen Mari, Anna und Ischtar geweiht und soll von drei Türmen gekrönt gewesen sein (Barbara Walker). Das althebräische Wort für Turm lautet Migdal und im altgriechischen Magdala. Der Name der Jüngerin bedeutet damit soviel wie Turm-Göttin. Der Kirchenvater Origines bezeichnet sie dann als Frauenhaarflechterin, was eine negative Konnotation besitzt und zwar der einer Prostituierten.

In der mittelalterlichen Legenda aurea (Ausgabe Köln 1479) erscheint das Turm-Motiv in Zusammenhang mit der Heiligen Barbara, der Schutzheiligen der Bergleute. Sie wird von ihrem Vater in einem Turm eingesperrt, weil sie Christin werden will. Es gelingt ihr zunächst, in eine Felsspalte zu fliehen, wird jedoch von einem Hirten (!) verraten. Barbara wird in der Literatur manchmal mit Maria Magdalena gleichgesetzt.

Drei andere literarische Quellen waren Grundlage für die Grimmsche Fassung. Die verkürzte Bearbeitung Jacob Grimms einer Erzählung von Friedrich Schultz (1790) geht ihrerseits auf die Feengeschichte "Persinette" zurück, die 1698 von der französischen Hofdame Charlotte-Rose de la Force verfasst wurde. Sie behauptete, die Geschichte erfunden zu haben. Aber die Märchensammlung des Giambattista Basile (1575-1632) "Das Pentameron" (1634, posthum) enthält bereits die Geschichte, in der das Mädchen "Petrosinella" heißt. Basile gibt dort an, dass es Chiarella Vusciolo war, angeblich eine Großmutter seines Oheims, die das Märchen zu erzählen pflegte. Felix Liebrecht, der das Pentameron 1846 ins Deutsche übersetzte, übertrug ihren Namen daher ins Deutsche mit "Klara Löchlein", dies unter Zustimmung Jacob Grimms. Der Fachliteratur nach soll sie allerdings der Phantasie einer anderen Erzählerin, der Zeza sciancata ("die aufflammende Zeza"), entsprungen sein. Chiarella Vusciolo sei demnach Basiles Phantasie entsprungen.
 

Verwandte Märchen

Besonders eng ist unser Zaubermärchen "Dornröschen" mit "Rapunzel" verwandt. Es erscheint die gleiche Symbolik, ein vergleichbarer Handlungsstrang und ebenfalls die Frau als Mädchen, Mutter und Alte. Der Zopf ist hier aber durch die Spindel ersetzt. Weitere Märchen, in denen drei Frauen, bzw. die Muttergöttin in ihren drei Aspekten, eine Rolle spielen, sind z.B. "Die drei Spinnerinnen" oder "Die drei Schwestern" und "Frau Holle", wo der Turm durch den Brunnen, der ja ein eingegrabener Turm ist, ersetzt ist. Letzteres gilt auch für das Märchen "Der Froschkönig" (Siehe dazu auch meinen Blog). Das (männliche) Rumpelstilzchen stellt im gleichnamigen Märchen für die geleistete Hilfe die Bedingung, später das Kind an sich zu nehmen, ein sog. Teufelspakt ganz wie bei "Rapunzel", und scheitert schließlich damit. Hier wird die Mutter, anders als Rapunzels leibliche Mutter, selbst aktiv und verhindert damit die Gefangenschaft des Kindes (in der Urfassung 1810 von Lisette Wild ein Sohn!). In "Jorinde und Joringel" ist die Gefangenschaft bei einer alten Hexe zentrales Thema, ebenso wie bei "Hänsel und Gretel". Es handelt sich jedoch jedesmal um ein Geschwisterpärchen und bei letzterem ist der Junge in größerer Not.
In den Märchen wiederholen sich Motive häufig. Das wird einerseits gerne als Beweis eines "kollektiven Unbewussten" (nach C. G. Jung) angesehen, andererseits zeigt es, dass Motive schlicht wiederverwertet wurden, wie es die Ursprünge in der antiken Mythologie auch beweisen. Dabei kam es aber oft zu einer Dämonisierung oder gegenteilig zu einer Überhöhung von Symbolen oder Figuren und sogar zu Geschlechtsumwandlungen. Derart manipuliert waren die Stories eine perfekte und oft auch perfide Propaganda.
 

Die brisante Textstelle: Rapunzels Schwangerschaft

So lebten sie lustig und in Freuden geraume Zeit, und die Fee kam nicht dahinter, bis eines Tages das Rapunzel anfing und zu ihr sagte:
'Sag sie mir doch Frau Gotel, meine Kleiderchen werden mir so eng und wollen nicht mehr passen.'

Wilhelm Grimm hat diese erste Version aus den "Kinder- und Hausmärchen" in späteren Auflagen vielfach stilistisch ausgeschmückt und nach einem öffentlichen Tadel bereits 1819 den Hinweis auf Rapunzels Schwangerschaft getilgt. Schon der Historiker Friedrich Rühs stöhnte: "Welche rechtschaffene Mutter oder Aufseherin würde ohne Erröten das Märchen von der Rapunzel einer schuldlosen Tochter erzählen können?" (Vgl. Maria Tatar 1990, S. 43)

Sein Vorbild Friedrich Schulz bezog die Szene auch deutlich auf den beteiligten Prinzen: "Der Prinz war seelenvergnügt. Rapunzel gewöhnte sich auch daran, ihn lieb zu haben, und sie sahen sich alle Tage. Aber es dauerte nicht lange, so passte ihr kein Kleid mehr. Der Prinz merkte, daß nichts Gutes herauskommen würde, wollte ihr aber nichts sagen, damit sie sich nicht grämte. Aber als die Fee wieder kam, und Rapunzel ihr klagte, dass ihr alle Kleider zu enge würden, gingen dieser die Augen auf ..."

Charlotte-Rose de la Force hingegen beschrieb den natürlichsten aller Vorgänge nüchtern und Rapunzel bleibt trotz ihrer sexuellen Erfahrungen "unschuldig":

"Der Prinz war glücklich, und Persinette gewann ihn immer lieber; sie trafen sich jeden Tag, und bald fand sie heraus, dass sie schwanger war. Dieser ungewohnte Zustand beunruhigte sie sehr, der Prinz wusste davon und wollte ihr nicht erklären, was passiert war, aus Angst, er mache sie unglücklich." (Vgl. Maria Tatar 1990, S. 76)

Giambattista Basiles "ungehemmte, erotische Erzählung unterscheidet sich scharf von Wilhelm Grimms ernsthafter Behandlung der Episode." Sie hielten "'leckere Mahlzeit mit der Petersilientunke der Liebe'. Eine alte Klatschbase (vgl. auch unten) aus der Umgebung warnt die Hexe schon bald, auf der Hut zu sein, 'denn Petrosinella habe sich mit einem Jüngling eingelassen'". Sie argwöhnt, sie wollten schon bald gemeinsam das Haus räumen. (Vgl. Maria Tatar 1990, S. 77)



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