Die Symbole


Rapunzel

Das Mädchen Rapunzel wurde nach den "Rapunzeln" im Garten der Frau Gothel benannt. Weil der Name für drei Pflanzen aus zwei verschiedenen Pflanzenfamilien verwendet wird, ist zunächst unklar, welche Rapunzeln gemeint sind. Ein kurzer Ausflug in die Botanik ist daher hilfreich, sich einer Antwort zu nähern.

Als Rapunzelsalat bekannt ist vor allem der kultivierte Feldsalat (bot. Valerianella locusta) aus der Familie der Baldriangewächse, der aus dem Mittelmeerraum stammt und erst im 17. Jahrhundert in Gärten angebaut wurde.

Die Rapunzel-Glockenblume (bot. Campanula rapunculus) aus der Familie der Glockenblumen wird schon im 16. Jahrhundert als Gartennutzpflanze nachgewiesen. Ihrer schönen, lila Blüten wegen fällt sie besonders ins Auge, nicht jedoch wegen besonders saftiger Blätter.

Die Gemeine Nachtkerze (bot. Oenothera biennis) wird auch Gelbe Rapunzel genannt. Bei uns zunächst als Zierpflanze im 17. Jahrhundert aus Nordamerika eingeführt, wurde später aus ihren Samen Öl zu Heilzwecken gewonnen. Schon die nordamerikanischen Ureinwohner verwendeten sie als Heilpflanze.

Aber auch Teufelskrallen (bot. Phyteuma) aus der Familie der Glockenblumen werden einfach Rapunzeln genannt wegen ihrer rübenförmigen Wurzeln (lat. rapunculus = Rübchen). Der griechische Name leitet sich von griech. phyteuein = zeugen ab oder bedeutet ganz einfach "Pflanze" (phyteuo). Dieses Wildkraut ist keine Heilpflanze, der Name kann aber auf die Verwendung als Aphrodisiacum hindeuten. Teufelskrallen sind sehr wohlschmeckend und waren früher als Wildgemüse gebräuchlich. Ihr dämonisierter Name ist ein Hinweis darauf, dass die Pflanze etwas mit der vorchristlichen Religion zu tun hat. Dieses Indiz könnte also dafür sprechen, dass im Märchen die Teufelskralle gemeint ist. Als Teufelspakt bezeichnen christliche Interpreten die Bedingung, die Frau Gothel an die Hilfe aus der Not knüpft.

In der Fassung von Friedrich Schulz erfahren wir: "Nicht weit von ihnen wohnte eine Fee, deren ganzes Herz an einem schönen Garten und an schönen Blumen, Stauden und Pflanzen hing. Sie pflanzte sich einen, und man sah wunderselt'ne Dinge darin, unter andern auch Rapunzeln, die damals noch sehr rar waren. Die Fee hatte sie über der See her kommen lassen, und im ganzen Lande waren außer ihrem Garten keine zu finden." Daher ist eindeutig, dass Schulz und auch Grimm tatsächlich den uns heute bekannten Rapunzelsalat bzw. Feldsalat meinen.

Jedoch gibt es für den Feldsalat in den unterschiedlichen deutschsprachigen Regionen über 20 verschiedene Namen, was nicht wundert, da es ja beim Import noch keinen deutschen Namen dafür gab. Nur in Sachsen, Thüringen und Mittelhessen heißt der Salat Rapunzel oder ähnlich (Rawunze in Mittelhessen und Rawinzchen im thür. Schlotheim). Nur hier wurde demnach der Name der Teufelskralle auf den Feldsalat übertragen. Schulz stammte aus Wertheim, beruflich verschlug es ihn jedoch nach Göttingen und nach Gießen, wo wir ja "Rapunzel" als Regionalnamen für den Feldsalat finden.

In den anderen Versionen ist Rapunzel "Petersilchen". Die Petersilie steht seit dem Altertum als einzige Pflanze für Tod, Unglück und gleichzeitig auch für die Liebe. Die "Petersilientunke der Liebe" nach Basile meint den schon im Mittelalter aus diesem "Hexenkraut" hergestellten und aphrodisisch wirkenden Extrakt der Pflanze. Zum angeblich wirkungsvollen Aphrodisiakum wird sie durch den anregenden Wirkstoff Apiol. Dieser ist allerdings auch "uteruserregend", was eine Schwangerschaft zum Abbruch bringt. Der Rapunzel-Salat des Märchen jedoch hat eine belebende Wirkung auf die werdende Mutter. Und auch bei Basilie spricht nichts dafür, dass sie ihr Kind abtreiben will, auch weigert sie sich schließlich, der "Orca" ("Herrin der Unterwelt"), ihr neugeborenes Kind auszuhändigen.
Die Mutter braucht das Kraut, um schwanger zu bleiben. Damit ist es das magische Gebärkraut der babylonischen Göttin Ishtar, das > König Etana der Göttin entreißen muss. Das Gebärkraut fördert und unterbricht eine Schwangerschaft. Es steht also für die sexuelle Selbstbestimmung der Frau, die seit Beginn des Patriarchats unterdrückt wird.

(Die Graphik zeigt Blauen Waldrapunzel, eine Art der Teufelskralle.) zur Symbolliste

Wer ist Frau Gothel?

Frau Gothel wird ihres Rapunzel-Salates beraubt. Ihre große Wut zeigt, wie wichtig er für sie ist: Hier liegt ihre wichtigste Macht verborgen. Um sich diese Macht, die Gebärmacht der Großen Göttin, zurückzuerobern, nimmt sie das kleine Mädchen mit.

"Gerade, dass sie niemals als Hexe, sondern immer nur die Zauberin oder 'Die Alte' und von Rapunzel 'Frau Gothel' benannt wird, was mundartlich Patin bedeutet, lässt uns an jene im Dämmer der Geschichte liegenden Zeiten denken, wo die Muttergottheit für die Menschen einen überragenden Einfluss hatte." (Geiger 1982, S. 216)

Im hessischen Dialekt ist die Goth eine Patin.

Die etymologische Verwandtschaft von "Gothel" und "Gott" erklärt Barbara Walker mit einem Wort aus dem Englischen: Gossip ("Gerücht") ist "ein uraltes, englisches Wort für Frauen, besonders für solche, die das mittlere Alter überschritten haben. Deutsche Übersetzungen wie Patin, Gevatterin oder auch Klatschweib, Waschweib treffen nur einzelne Aspekte des englischen Begriffs" (Walker 1995, S. 322), oder werten ihn sogar ab.
"Das ursprüngliche Wort lautete godsib, 'Verwandte Gottes', womit eine godmother, engl. 'Patin' (wörtlich Gott-Mutter) gemeint war. In vorchristlicher Zeit galten ältere Frauen als göttlich, weil sie nach ihrer Menopause ihr 'weises Blut' bei sich behielten. In christlicher Zeit war gossip die allgemeine Bezeichnung für 'Patin'." (Walker 1995, S. 322)
Die germanische Große Göttin Holda (= Frau Holle, Frau Herke, Frau Percht), die in Norddeutschland auch Frau Gode heißt, muss m.E. ebenfalls zur Erläuterung herangezogen werden. Ihr Name "Die Gode" (über "Der Wode") ist das Ergebnis der sog. Wodanisierung der Frau Herke (Vgl. Timm 2003). (Anmerk.: Wodan, der oberste Gott der Herrscherklasse weniger Stämme der Südgermanen, hat im Volksglauben tatsächlich nicht die Bedeutung erlangt, die ihm von Wissenschaftlern der herrschenden Lehre und sog. Neugermanen angedichtet wird, sondern wurde vor allem bei den Sachsen verehrt.)

In der "Petrosinella" des Giambattista Basile (Das Pentamerone) heißt Frau Gothel "Orca", womit er angeblich "Hexe" meint, vgl. ital. strega, Hexe. Wahrscheinlicher ist, dass sie als "Herrin der Unterwelt" (lat. orcus, Unterwelt) gedacht ist. Ihr männliches Pendant ist der römische Gott Orcus, "Herr der Unterwelt", als Orco Stygeros, der Flussgott des Styx.

Bei Madame de la Force ist sie "La fée", eine Fee, was Friedrich Schulz übernimmt. In Grimms KHM wird sie in der ersten Fassung ebenfalls als Fee, danach als "Zauberin" bezeichnet. Rapunzel nennt sie in den KHM "Frau Gothel", bezeichnet sie also als ihre Patin.

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Mutter und Tochter

Diese Dualität findet sich in manchen antiken Mythen wie dem von Demeter und Kore. Sie geht auf die > Doppelgöttin des Neolithikums zurück, die die matrilineare Erbfolge verkörperte.
In der Bronzezeit erst entwickelte sich die Trinität (Jungfrau, Mutter und Alte) als Vorläuferin der christlichen Dreieinigkeit und Dreifaltigkeit.
Mutter und Tochter verkörpern in der Biologie die Kontinuität des Lebens. Sobald eine Frau mit einer Tochter schwanger ist, trägt sie mit ihr schon die Eizellen in sich, aus denen sich ihre Enkelin/nen entwickeln können. Dies war den Mythologen, die Vater und Sohn vergöttlichten, noch unbekannt. Sie bezogen sich aber auf die Trinität, bei der die Großmutter dazu gehört. Zum Beispiel als christliche "Anna Selbdritt" ist sie vertreten. Dies ist jedoch einerseits ein Relikt der Religion der Kanaaniter, die eine dreifache Göttin verehrten, und andererseits ein mythologischer Regieeinfall, denn an die Stelle des unbekannten Vaters kann ein Vatergott treten. Gemäß unserer angeborenen Matrifokalität ist der Vater tatsächlich unbekannt. Die mütterliche Großmutter ist dabei die Garantin für den Reproduktionserfolg der Tochter (zur Großmutter-These siehe meinen > Blog) und ist nicht, wie im Patriarchat, ausgegrenzt. Frau Gothel ist keine Großmutter, aber sie verhält sich wie eine böse Schwiegermutter.
Im patriarchalen Endstadium wird auch die Mutter von ihrer Tochter isoliert, noch bevor diese erwachsen ist. Dies nimmt das Märchen Rapunzel vorweg.

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Zwillinge

Zahllose Plastiken zeigen die > Doppelgöttin des Neolithikums. Aus ihr ging neben der göttlichen Zweieinigkeit (s.o. Symbol "Mutter und Tochter") das mythische Zwillingsprinzip hervor. Dieses ist also mit dem Mutter-Tochter-Prinzip verwandt. Im Märchen gebiert Rapunzel jedoch eine Tochter und einen Sohn. Hierin drückt sich die beginnende Patriarchalisierung aus. Im weiteren Verlauf dieses Prozesses einer Mythenanpassung an bestehende politische Verhältnisse stehen zwei Brüder, die jedoch nicht immer Zwillinge sind (z.B. Kain und Abel, Castor und Pollux oder Romulus und Remus), und schließlich Vater und Sohn. Soweit kommt es im Märchen von Rapunzel nicht. Im Vordergrund steht die menschliche Paarbildung, jedoch nicht die Monogamie, sondern schlicht die Verliebtheit, die bald zuende geht.

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Zopf

Das Haar galt gewöhnlich als Träger oder Sitz zumindest eines Teils der Seele. Im Altertum besaßen Frauen ohne langes Haar keine Zauberkraft, weswegen Frauen mit abgeschnittenem Haar als ungefährlich galten. Das mittelalterliche Europa kannte eine Unzahl magischer Vorstellungen, die auf der heidnischen Bedeutung des Haares basierten. Kinderhaar blieb viele Jahre lang mit der Begründung ungeschnitten, dass sonst die Kraft des Kindes geschwächt würde. (nach Walker 1995)

Für Priesterinnen war ihre Frisur mehr als Mode, sie war eine religiöse Handlung, z.b. bei den > römischen Vestalinnen.
Der Zopf wird üblicherweise aus drei Strängen gewoben. Die webenden Göttinnen der Welt - bei den Germanen waren es die drei Nornen - waren Schicksalgöttinnen. Das Auf- und Ab, das Unten und Oben des Webvorgangs symbolisiert den typischen Lebensweg im Patriarchat, der sich in jedem Leben - am "Ende der Kette" - wiederholt. Darin liegen stete Hoffnung aber auch stete Enttäuschung.
Beim Zopf sind Kette und Schuss eins, weshalb wir von "flechten" sprechen. Abwechselnd der linke und rechte Strang wird jeweils zwischen die beiden anderen gelegt. Dieses Prinzip versinnbildlicht gegenseitige Fürsorge aber auch völlige Gleichberechtigung in der Muttersippe. Die drei Stränge stehen für die Tochter, die Mutter und die Großmutter. In seiner Abfolge bis zum unterem Ende steht der Zopf für die Unendlichkeit der Generationen von Müttern. Daher ist er im Märchen auch ungewöhnlich lang. Der Mann, der am Zopf empor steigt, steht für all die Männer, denen die Frauen im Laufe ihres Lebens begegnet sind und von denen sie Kinder haben.
Der Zopf läuft aus in einer Locke in Form einer Spirale, dem Symbol für Leben und Tod.
Die Botschaft im Märchen ist bitter: Rapunzel verliert mit ihren Haaren ihre Kraft. Es ist die Kraft der alten matrifokalen Lebensweise. Mit diesem Regieeinfall, dem brutalen Abschneiden des göttlichen Zopfes, sind die Mythografen sehr zufrieden: Rapunzel wird damit für die patriarchale Welt annehmbar.
Rapunzels Haare waren eine Himmelsleiter zur Großen Göttin. Dem Prinzen ist der Zugang zum Turm jetzt für immer verwehrt.

Magische Kraft wurde übrigens auch den weiblichen Körpersäften zugeschrieben, für die der Zopf stehen kann, wenn wir ihn im Zusammenhang mit dem Turm sehen...

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Turm

Der Turm steht heute für den Versuch des Menschen, dem Himmel nahe zu kommen (Turmbau zu Babel), aber auch schlicht möglichst viele Menschen an einem Ort zu versammeln, soweit es technische Mittel zulassen. Er steht auch für Schutz (Wohntürme des Mittelalters, Bergfriede) und Unerreichbarkeit. Ein Turm verbindet das Unten mit dem Oben und damit ist er verwandt mit dem Heiligen Baum.
Im Tarot jedoch steht der Turm für Zerstörung und umwälzende Veränderung - eine erdbebengleiche Erleuchtung und das Ende falschen Bewusstseins. Strukturen brechen zusammen, doch am Ende steht nicht der Tod, sondern höchste Glückseligkeit der Unsterblichkeit der Seele und der göttlichen Natur des Körpers. (nach Noble 1986) 

Der Turm hat, wie es der altgriechische Mythos von > Danaë beweist, keine phallische Bedeutung, die ihm gerne zugeschrieben wird. Er ist im Gegenteil die Vagina der Göttin! (Zum Turm als vermeintliches Phallussymbol siehe auch meinen > Blog.)
Er bedeutet auch den Ort und die Zeit der Göttin, die matrifokale Zeit: Rapunzel im Turm war für den Prinzen der Ort der Glückseligkeit, aus dem er nun vertrieben wurde. Doch diese Strafe allein reicht noch nicht...

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Gefangenschaft

Rapunzels Gefangenschaft entspricht den realen Verhältnissen im Patriarchat, welches ein Entführungsverbrechen ist.
Diese wenig bekannte Tatsache erschließt sich aus der Entstehung des Patriarchats und dem Wissen darüber, wie es erhalten wird. Ich verweise dazu an die entsprechende > Seite auf meiner Homepage. Das Symbol der Gefangenschaft und das Symbol des Turms gehören damit zusammen. Denn über ihre Gebärfähigkeit (Turm) ergibt sich der Grund für Rapunzels Gefangenschaft. Nur die Gefangennahme garantiert einerseits die Kontrolle über die Sexualität der jungen Frau und andererseits die Feststellung der Vaterschaft für den Fall einer Schwangerschaft.
Durch die Gefangenschaft im Turm weiß Frau Gothel, wer der Vater ihres Kindes ist. Frau Gothel kann ihn damit in die Ungewissheit/Blindheit gegenüber seiner Vaterschaft verbannen und damit die patriarchale Übernahme verhindern. Diese Übernahme ist im realen Leben die Patrilokalität, d.h. die Mutter wohnt beim Vater ihrer Kinder, und zwar nachdem die Macht über sie vom Vater an den Ehemann und Schwiegervater überragen wurde. Auch in den mythologischen Vorlagen wird die junge Frau niemals von einer Frau gefangen genommen, sondern immer von einer Vaterfigur ganz entsprechend den tatsächlichen Verhältnissen der Patrilokalität. Frau Gothel ist demnach auch eine propagandistische Projektion patriarchaler Unterdrückung, eine ungerechtfertigte Schuldzuweisung, der Urschuld der Eva vergleichbar. Geboren wird damit ein neuer Mythos, nämlich der vom Matriarchat, das noch schlimmer sei als das Patriarchat. Da es ein reales Matriarchat nie gegeben hat, also auch niemand wissen kann, wie ein Matriarchat ist, wird ein Scheinargument geschaffen, mit dem das Patriarchat in ein gutes Licht gestellt werden kann. Es kann nur geglaubt werden, sich aber nie bestätigen. An dieser Stelle offenbart sich, wie Religion mittels Mythos funktioniert.

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Blindheit

Nachdem die Liebenden entdeckt sind, wird der Prinz nicht nur vertrieben, sondern mit Blindheit geschlagen. Das Vergehen scheint schwerer zu wiegen als ein Biss in den Apfel der Erkenntnis.
Seine Blindheit ist einerseits wörtlich gemeint, damit sie Mitleid erzeugt. Andererseits ist da die vielfältige Symbolik. So steht Blindheit für die Unmöglichkeit, die Geliebte zu "erkennen", wie die Bibel den Geschlechtsverkehr umschreibt. Rapunzel kann sich nun ganz ihren Kindern widmen.
Die Blindheit kann für die Gerechtigkeit stehen, wie bei der römischen Göttin bzw. Allegorie Justizia, die nicht aus Sympathie oder Täuschung urteilen soll. Blindheit kann aber auch gegenteilig für die Unfähigkeit stehen, die Wahrheit zu erkennen. Und das trifft hier sicher zu. Als der Prinz Rapunzel und ihre Kinder in der Wüstenei findet, kann er seine Kinder nicht so einfach als die seinen erkennen. Rapunzel hat damit die Freiheit, ihn über seine Vaterschaft an diesen Kindern im Unklaren zu lassen. Sie gibt ihm ihr Augenlicht zurück, das zum Synonym für das Patriarchat wird, das er mit diesem Wissen nun ausüben kann.
Die Blindheit kann auch für unsere eigene Blindheit gegenüber der Unwahrheit stehen, die im Patriarchat allgegenwärtig ist, weil der Glaube gegen besseres Wissen ausgespielt wird.

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Wüste

Die Wüste ist anarchisch wie die Urmutter allen Lebens. Hier gibt es keinen Herrscher, aber es herrschen die Naturgesetze. Es geht ums nackte Überleben und das ist nur durch eine extreme Anpassung möglich. Für die dort lebenden Menschen bedeutet das Gesetz der Wüste Patriarchat, weil sie sich in einem für sie widernatürlichen Lebensraum aufhalten und sie zu Hirtennomaden werden müssen. Diese Lebensweise hat das Patriachat erst hervorgebracht.
Die totbringende Wüste trägt dennoch das Potential allen Lebens in sich. Sobald es regnet, beginnt die Wüste zu blühen.

Rapunzel bricht aus der Welt der Urmutter aus, dennoch hat sie für sich die angeborene female choice bewahrt, die in matrifokaler Zeit noch frei gelebt wurde, im Patriarchat aber unterdrückt wird: Sie hat für sich in Anspruch genommen, den Partner frei zu wählen und wird ohne Heirat schwanger. Nur dafür wird sie in die Wüste vertrieben. Dieser Wendepunkt im Erzählstrang und der Ort muten für ein europäisches Märchen seltsam fremd an. Und tatsächlich befinden wir uns nun im Kontext des biblischen Nahen Ostens: die Mythografen haben sich verraten.

Der Begriff Wüste kann patriarchale Propaganda sein, die sich auf für große Herden unbrauchbares Land bezieht, also Wälder und Feuchtgebiete. In der Offenbarung des Neuen Testaments lesen wir nämlich: "Und da der Drache sah, daß er verworfen war auf die Erde, verfolgte er das Weib, die das Knäblein geboren hatte. Und es wurden dem Weibe zwei Flügel gegeben wie eines Adlers, daß sie in die Wüste flöge an ihren Ort, da sie ernährt würde eine Zeit und zwei Zeiten und eine halbe Zeit vor dem Angesicht der Schlange." (Offenbarung 12.13-14)
Der Drache ist ein Mischwesen aus Adler und Schlange, den Symboltieren der Großen Göttin I¹tar, also eine dämonisierte I¹tar. I¹tar vollzieht in der mesopotamischen Mythologie einmal im Jahr mit ihrem Sohngeliebten, dem Stier, die Heilige Hochzeit und sorgt auf diese Weise für das Wiedererwachen der Natur. In sumerischer Zeit hieß sie noch Inanna und war die Fluss- und Muttergöttin der Ströme Euphrat und Tigris, die in einem sumpfigen Delta ins Meer münden.
In der Offenbarung lesen wir auch, dass die Wüste, welche in 1. Mose1.2. für den Anfang steht ("Die Erde war wüst und leer"), in der vorbiblischen Zeit der Sitz der Großen Göttin war: "Und er brachte mich im Geist in die Wüste. Und ich sah ein Weib sitzen auf einem scharlachfarbenen Tier, das war voll Namen der Lästerung und hatte sieben Häupter und zehn Hörner." (Offenbarung 17.3)

Frau Gothel schneidet Rapunzel zur Strafe nicht nur den Zopf ab, sie schickt die Schwangere auch in die Wüste: "Und sie war so unbarmherzig, dass sie die arme Rapunzel in eine Wüstenei brachte, wo sie in großem Jammer und Elend leben musste." Dass sie alleine dort überleben kann, ist nur möglich, weil die Wüste ursprünglich als Ort der Muttergöttin galt, wo die Frauen versorgt waren.

Auch die Redewendung "jemanden in die Wüste schicken" stammt aus dem Alten Testament:
"Aaron soll seine beiden Hände auf den Kopf des lebenden Bockes legen und über ihm alle Sünden der Israeliten, alle ihre Frevel und alle ihre Fehler bekennen. Nachdem er sie so auf den Kopf des Bockes geladen hat, soll er ihn durch einen bereitstehenden Mann in die Wüste treiben lassen und der Bock soll alle ihre Sünden mit sich in die Einöde tragen. Hat er den Bock in die Wüste geschickt, dann soll Aaron wieder in das Offenbarungszelt gehen, die Leinengewänder, die er beim Betreten des Heiligtums angelegt hat, ablegen und sie dort verwahren.
Er soll seinen Körper in Wasser an einem heiligen Ort baden, wieder seine Kleider anlegen und hinausgehen, um sein Brandopfer und das des Volkes darzubringen. Er soll sich und das Volk entsühnen und das Fett des Sündopfers auf dem Altar in Rauch aufgehen lassen. Der Mann, der den Bock für Asasel hinausgeführt hat, muss seine Kleider waschen, seinen Körper in Wasser baden und darf danach wieder in das Lager kommen.
" (3. Mose 16.21-26)

Ein Sündenbock lädt also im Land der Göttin alle Sünden ab. Sünde, das ist alles, was das Patriarchat stört, die freie Frau und freies Denken und Handeln.

Auch der Prinz wird wie der Sündenbock in die Wüste geschickt, aber Rapunzel ist längst schon da und hat gesunde Zwillinge geboren.

Das Symbol der Wüste offenbart uns, dass Rapunzel und Frau Gothel ein und dieselbe sind. Die vermeintliche Wüste ist offenbar ein Paradies, wo die erste Frau auch ohne Vater gebären darf. Dieses uralte Motiv wird von den politischen Theologen, den Kirchenvätern, in Vater und "Wüstensohn" verdreht, die ebenfalls eins sind. Am Ende des Märchens siegt die "Wahrheit" der Kirche.



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